Sagen, was sein kann
Warum es gerade jetzt auf Medien ankommt, die auf der Höhe unserer Zeit agieren
Der Anfang vom Ende der Ampel kommt daher wie ein normaler Geschäftsvorgang. Partner in einer gemeinsamen Regierung sind unterschiedlicher Ansicht und holen sich deshalb Rat aus unterschiedlichen Quellen. Soll ja vorkommen in einer Demokratie. Und ist daher auch kein Unfall: Ein fairer Wettstreit um die besten Lösungen für ein akutes Problem – ist es nicht das, was ein lebendiges und fortschrittliches Gemeinwesen ausmacht?
(„Sagen, was sein kann“ zum Anhören, gelesen von mir)
Und so laden also vor zwei Wochen sowohl der Bundeskanzler Olaf Scholz als auch der Finanzminister Christian Lindner zu Wirtschaftsgipfeln ein. Und viele Medienvertreterinnen und -vertreter tun, wofür sie nach ihrer Berufsauffassung da sind: Sie berichten das, was ist. So hat es der Spiegel-Gründer Rudolf Augstein mal formuliert. Hier ein Gipfel, dort ein Gipfel. Und die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes können selbst entscheiden, wer die besseren Argumente zu bieten hat.
Schön wärs.
In Wahrheit erzählen viele Medien in diesem Moment wieder einmal nicht von dem, was ist. Sondern von dem, was andere ihnen als Wahrheit verkaufen. Damit, sich Inszenierungen der Wirklichkeit nicht entgegenzustellen, sondern zuzulassen, dass Menschen mit großer finanzieller und politischer Macht die Realität zu einer Marke verformen mit Produkten, mit denen man Marketing in eigener Sache betreiben kann – damit sind Medien regelmäßig selbst Teil von Problemen, die zu benennen und zu ihrer Lösung beizutragen eigentlich ihr Auftrag wäre.
Das ist nicht nur nicht schön. Das ist verheerend.
Denn diese Entwicklung hat ihren Anteil daran, dass die USA zum zweiten Mal einen Faschisten, Sexisten und Kriminellen zu ihrem Präsidenten gewählt haben, Deutschland am Rande der politischen Handlungsfähigkeit steht und, wenn nicht noch ein Wunder geschieht, auch nach der Neuwahl des Bundestags am 23. Februar nur eine kurze Verschnaufpause erleben wird. Denn entweder regiert dann die nächste sogenannte Große Koalition aus Union und SPD oder ein Bündnis aus Union, SPD und Grünen oder eines aus Union, Grünen und FDP. Glaubt jemand allen Ernstes, dass dann wie von Zauberhand alles besser wird, solange wir nicht die Ursachen der gegenwärtigen tiefen Krisen in den Blick nehmen werden? Doch dafür braucht es auch eine Medienlandschaft, die auf der Höhe unserer Zeit agiert.
Medien bezeichnen sich gern als vierte Gewalt. Und damit haben sie recht. Ohne sie ist eine Demokratie nicht überlebensfähig. Medien kritisieren Regierungen und decken Korruption auf. Investigative Recherchen bringen Missstände ans Licht, Analysen machen Zusammenhänge sichtbar. Wer sich in Deutschland fundiert informieren möchte, kann aus so vielen Quellen wählen, dass man sich den ganzen Tag (und die ganze Nacht) zu einem schlaueren Menschen lesen, gucken und hören könnte.
Allein in den vergangenen zwei Wochen habe ich gelernt, dass der Aufstieg der Ultrarechten in den USA schon unter Ronald Reagan in den achtziger Jahren begonnen hat, begünstigt von den Milliardenspenden von Männern, die befürchteten, andernfalls ihr fossiles und auf Ausbeutung beruhendes Geschäftsmodell zu verlieren. Ich habe gehört, dass rechte Talkradios daran einen großen Anteil hatten, weil sie die Sucht vieler Amerikanerinnen und Amerikaner befriedigten, für das eigene Gefühl, abgehängt zu werden vom Wohlstand der Anderen, Schuldige benennen und beschimpfen zu können. Und damit sind die Talkradios selbst zu Medienimperien aufgestiegen. Talkradios auf der anderen Seite des politischen Spektrums, mit Gesprächen über Gerechtigkeit, Gleichheit und Vielfalt sind dagegen regelmäßig abgestürzt – komplizierte Debatten über komplexe Probleme wollten sich nicht genug Leute anhören und deshalb ließ sich dort auch nicht genug Werbung verkaufen. Und ich habe verstanden, dass in Deutschland das gegenwärtige Schlamassel mit der Schuldenbremse das Ergebnis einer ganz großen Koalition ist, die sich zu Zeiten von Angela Merkel mit billigem Gas und Öl über die Zeit rettete und die Haushaltsführung einer Regierung mit dem Handeln einer schwäbischen Hausfrau verglich („Man darf nur ausgeben, was man vorher eingenommen hat.“). Dabei wollten die Parteien nicht wahrhaben, dass die Politik in Wirklichkeit dem Verhalten eines bayerischen Oktoberfestbesuchers folgte: „Heute sauf ich. Und dass es mir morgen hundeelend geht, habe ich beim nächsten Schluck schon wieder vergessen. Oans, zwoa, drei – gsuffa.“
All das habe ich in deutschsprachigen Medien gelernt. Daneben aber gibt es auch das, was ich Schleuserbandenjournalismus nenne. Nicht nur in Deutschland, sondern in allen hochentwickelten Mediengesellschaften, in denen vor allem aktuell berichtende Medien um Aufmerksamkeit und Quoten kämpfen und deshalb zu oft unkontrolliert durch ihre Kanäle fließen lassen, was andere einschleusen. Die Medien tun das nicht aus bösem Willen, sondern aus einer Mischung aus Überforderung und einem unzureichend reflektierten Verständnis von Neutralität. Und damit sind wir wieder bei den sogenannten Wirtschaftsgipfeln vor zwei Wochen.
Zwischen dem, wozu Olaf Scholz ins Bundeskanzleramt eingeladen hatte, und dem, was Christian Lindner und seine FDP-Bundestagsfraktion organisiert hatten, gab es einen grundlegenden Unterschied. Scholz hatte Unternehmen und Gewerkschaften zusammengeholt, um aus unterschiedlichen Perspektiven darüber zu sprechen, was die Wirtschaft jetzt braucht, um wieder in Schwung zu kommen. Die FDP hatte Verbände zu sich gebeten, die für ihre eigenen Interessen lobbyierten. So zu tun, als wäre dieses Treffen ein Gipfel des Finanzministers gewesen, ist, als würde man ein Abendessen unter Freunden zu einer Verhandlung über einen neuen Tarifvertrag verklären. Doch viele Medien ließen die Informationsschleuser gewähren und erzählten das Märchen von den Gipfeln einfach weiter. Und wer nicht aufpasste, hatte am Ende den Eindruck: Hier der Kanzler, dort der Finanzminister. Beide mit demselben Ziel: der Wirtschaft in ihrer schärfsten Krise seit dem Meltdown der Finanzindustrie 2008 wieder auf die Beine zu helfen.
Das ist so fatal, weil bei der FDP Verbände mit am Tisch saßen, die seit Jahren mit einer teils aggressiven und irreführenden Kommunikation alles daran setzen, jede Diskussion über Gerechtigkeit im Keim zu ersticken. Zum Beispiel der Verband der Familienunternehmer, der so tut, als kämen hier Unternehmen aus dem Mittelstand zusammen, die, wie es immer so schön heißt, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden: Der Urgroßvater hat das Unternehmen gegründet, seit Jahrzehnten geht es jetzt von einer Generation auf die nächste über und wer daran die Axt anlegt, bricht unserem Land die Knochen.
In Wahrheit verstecken sich hinter diesem Label international tätige Unternehmen mit Umsätzen in Milliardenhöhe. Das erlaubt dem Verband, Millionen in Lobbyarbeit zu investieren. Nach Recherchen von Abgeordnetenwatch und ZEIT Online waren es im Jahr 2021 rund drei Millionen Euro. Und was macht der Verband mit dem Geld? Er polemisiert zum Beispiel dagegen, sehr reiche Menschen höher zu besteuern. Vor der letzten Bundestagswahl war der Plan, die Vermögenssteuer in „Mittelstands-Steuer“ oder „Exportnationssteuer“ umzuetikettieren. Und so hieß es zum Beispiel in einem Leitfaden: „Vermögenssteuer ist Mittelstandsbremse: Die Grünen, die SPD und die Linke planen jeweils, nach einem Sieg bei der Bundestagswahl die Vermögenssteuer wieder zu erheben. Ihr Ziel: Vermögen soll in Deutschland neu verteilt werden. Doch haben sie die gewaltigen Kollateralschäden überhaupt erkannt?“ Die Botschaft dieser Argumentationshilfe war klar: Kommen in diesem Land die Linken an die Macht, schlafen die Deutschen innerhalb von drei Jahren wieder in Höhlen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich braucht eine moderne Demokratie einen Wettstreit der Ideen. Und auch die Unternehmen müssen ihre Interessen artikulieren. Doch wer mit viel Geld und Einsatz Debatten über mehr Steuergerechtigkeit unterbindet, untergräbt damit den sozialen Frieden und trägt dazu dabei, dass diejenigen leichtes Spiel haben, die vor„Kommunismus“ warnen, wenn es tatsächlich um ein Verständnis von Gerechtigkeit geht, das die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte unter sich begraben hat.
Der französische Ökonom Gabriel Zucman hat im Auftrag der brasilianischen Regierung ein Konzept entwickelt, nach dem die 3000 Milliardäre, die es weltweit gibt, zwei Prozent ihres Reichtums abgeben müssen. Das brächte den Regierungen weltweit Steuereinnahmen in Höhe von 250 Milliarden US-Dollar ein. Niemand will Menschen um den Ertrag ihrer Risiko- und Leistungsbereitschaft, ihrer Kreativität und innovativen Kraft bringen. Es geht allein darum, für die großen Zukunftsaufgaben, vor denen die gesamte Welt gerade steht, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die in den vergangenen Jahrzehnten auch davon profitiert haben, dass sich Reichtum nahezu unreguliert aufbauen konnte. Oder will jemand ernsthaft behaupten, dass Steueroasen auf den Kayman-Inseln Ausdruck unternehmerischer Kreativität sind? Dann ist „Malen nach Zahlen“ auch Ausdruck großer Kunst.
In den USA hat der Aufstieg rechter Medien, Podcasts und Social Media-Vergifter wesentlich dazu beigetragen, Trump whitehousefähig zu machen. Es ist ein Paralleluniversum entstanden, in dem politische Fakten so lang durch die Luft wirbeln, dass sich am Ende niemand mehr auskennt und alle glauben können, was sich für sie jeweils am besten anfühlt. Davon sind wir in Deutschland gottlob noch ein Stück entfernt. Umso wichtiger ist es daher, dass gerade die etablierten Medien gerade jetzt tun, wofür sie wirklich da sind: hinter die Kulissen blicken, Inszenierungen demaskieren, Interessenlagen kenntlich machen. Unsere Gesellschaft kann nicht noch mehr Polarisierung aushalten. Ein neues Miteinander kann nur entstehen, wenn klar ist, wer mit welchen Interessen was sagt.
Was wir brauchen, ist ein Augstein fürs 21. Jahrhundert: Sagen, was sein kann, sobald die Status quo-PR ihre Macht verliert.
Cool zusammengefasst! Finds auch stark, dass du eine Audio-Version angefügt hast - gefällt!