Warum alle die Rede kennen müssen, die am Sonntag nicht gehalten werden durfte
Der Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime beginnt damit, die richtigen Worte zu finden und zu verbreiten, um es zu kritisieren
(„Warum alle die Rede kennen müssen, die am Sonntag nicht gehalten werden durfte“, gelesen von mir)
Am vergangenen Wochenende wurde bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald eine der wichtigsten Reden unserer Zeit nicht gehalten. Die israelische Regierung hatte befürchtet, in ihrem Handeln in Frage gestellt zu werden. Also übte sie so lange Druck aus, bis der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald keine andere Möglichkeit mehr sah als die Reißleine zu ziehen und die Rede abzusagen. Vertreter der Regierung von Benjamin Netanjahu und seiner rechtsextremen Minister haben sogar hoch betagte KZ-Überlebende angerufen, die an der Gedenkfeier teilnehmen wollten.
Es ist ein Vorgang, der angesichts der vielen grauenhaften Nachrichten aus Gaza und dem Westjordanland ein wenig unterging. Und doch oder gerade deshalb verdient er jede Aufmerksamkeit. Im Moment fragen sich ja viele, was man tun kann, um für die Welt einzustehen, in der man selbst leben möchte – eine Welt, in der nicht jene das Sagen haben, deren zerstörerische Ideen allein auf Selbsterhalt und die Interessen der eigenen Gruppe ausgerichtet sind. Voilà: Lest, was Omri Boehm, einer der klügsten und umsichtigsten Denker unserer Zeit, gesagt hätte, wenn er am Sonntag hätte sprechen dürfen. Verinnerlicht, was er zu sagen hat, auch wenn er nicht spricht. Und dann: Verbreitet seine Worte. Mehr als diese Rede vom Wochenende muss nicht kennen, wer den Versuch unternehmen möchte, aus dem gerade jetzt so oft zitierten abstrakten Anspruch, dass Menschenwürde für alle gelten muss und nicht nur für die Angehörigen einer Seite, konkretes Denken, Fühlen und Handeln zu machen.
Wer nicht für mich ist, ist gegen mich – der Keim für Chaos und Konflikt
Omri Boehm ist 45 Jahre alt. Er stammt aus einer Gemeinde in Galiläa, ist Enkel einer Holocaust-Überlebenden, Philosoph und Hochschullehrer und unterrichtet seit 2010 an der New Yorker New School for Social Research. Vor zwei Jahren erschien sein Buch „Radikaler Universalismus – Jenseits von Identität“. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, sich nicht auf eine Seite zu schlagen, gerade dann nicht, wenn die Dinge zu kompliziert und zu aussichtslos zu werden scheinen und man in sich das immer stärker werdende Gefühl wahrnimmt, man könne nur für Gerechtigkeit und Frieden kämpfen, wenn man selbst zur Partei wird. Boehm gehört zu jenen, die sagen: Es sind genau solche Festlegungen, die zum Verderben beitragen, das zu beheben man sich selbst doch so fest vorgenommen hat. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich – in diesem Denken steckt der Keim dafür, dass das Chaos und die Konflikte nur immer größer werden, bis die Verhältnisse schließlich erst eskalieren und dann explodieren.
Boehm hat dieses Buch geschrieben, nachdem er an seiner eigenen Universität erlebt hatte, welche Folgen es hat, wenn die eigene Identität zur Grundlage des Denkens und Handelns wird. In der Überzeugung, im Recht zu sein, werfen alle jeweils der andere Seite vor , dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn diese doch nur endlich klein beigeben würde. Und so werden in diesem Streit grundlegende Prinzipien zerrieben, weil alle einander vorhalten, sie für die eigenen Zwecke zu missbrauchen. Boehm schrieb: „Wie die Rechte im Namen traditioneller Werte kämpft, so kämpft die Linke im Namen von Gender und Race. Der universelle Humanismus gilt keiner der beiden Seiten mehr als Grundlage, um ungerechte Gesetze und diskriminierende Machtstrukturen zu kritisieren und zu verändern. Er wird vielmehr als die Maske wahrgenommen, die es den Herrschenden ermöglicht, die Strukturen der Ausgrenzung und Ausbeutung aufrechtzuerhalten.“
Hinter den Mauern der eigenen Wahrnehmung
Boehm ist damit ein Affront für all diejenigen, die sich nach Eindeutigkeit sehnen. Wir sind in einer Zeit angekommen, in der in Medien, in der Politik, auf Social Media-Kanälen viele Botschaften wirken, als sei es möglich, durch bloßes mit dem Finger auf die Anderen Zeigen die Welt zu retten. Schuld am Status quo haben immer die anderen. Es steckt ein tiefer Schmerz hinter dieser Haltung, den zu verkennen unanständig wäre. Genauso unangemessen ist es jedoch, die eigene Haltung zur einzig gültigen und richtigen zu erklären. Denn so verkennt man sehr schnell, dass auch andere Gruppen überzeugt sind, Werten zu folgen, für die einzustehen und zu kämpfen sich lohnt. Und so entstehen Dynamiken, in denen sich Menschen immer weiter hinter den Mauern ihrer eigenen Wahrnehmungen abschotten und darauf setzen, man müsse nur laut genug schreien, dann würde es auf der anderen Seite schon irgendwann still. In Israel hat auch dieses Denken zu dem Grauen des 7. Oktober geführt.
Bald danach saß Boehm in einem Fernsehstudio von „Sternstunde Philosophie“. Es war ein beeindruckender Moment. Boehm sprach mit so viel Umsicht und Klugheit über den Massenmord und seine Hintergründe, dass es erträglich wurde, dem zuzuhören, was so unerträglich war. Israel habe seine Bürgerinnen und Bürger viel zu lang im Glauben gehalten, dass es in einem Stadium der Unangreifbarkeit, geschützt von hochgerüsteten Grenzanlagen mit den Palästinensern keinen Frieden bräuchte. Diese Illusion sei nun geplatzt. Israel verübe seit Jahrzehnten Völkerrechtsverbrechen. Für ihn sei das mit dem Begriff Apartheid richtig beschrieben. Und gerade indem er anerkenne, dass Israel einen Kontext geschaffen habe, in dem das Massaker vom 7. Oktober habe geschehen können, habe er die Möglichkeit, es zu verurteilen. Boehm sagte: Man muss auf die Verbrechen hinweisen, die Israel seit langem systematisch gegen das palästinensische Volk verübt, um sagen zu können, dass nichts rechtfertigen können, dass die Hamas schwangere Frau massakriert und Menschen bei lebendigem Leid verbrannt hat.
Menschenwürde ist keine Phrase
Boehm stellt sich damit gegen jene, die das Handeln der Hamas zu einem Freiheitskampf verklären. Das passiert an amerikanischen Universitäten. Es passiert auf deutschen Straßen. Bis heute. Boehm schreibt und spricht leidenschaftlich dagegen an. Für ihn ist der erste Satz des deutschen Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ keine Phrase. Der Satz benennt vielmehr ein grundsätzliches Prinzip, das alle Seiten miteinander verbindet. Es macht Boehm betroffen, dass der Begriff der Menschenwürde immer mehr in Zweifel gerät, je stärker Fragen von Kolonialisierung oder Unterdrückung weltweit in den Vordergrund rücken. Immanuel Kant ist für Boehm der Begründer einer Ethik, die Menschenwürde und Freiheit zu umfassenden, nicht verhandelbaren Prinzipien erklärt. Doch Kant war Rassist. Für viele ist das ein Grund, ihn abzulehnen. Wie soll man einem Mann folgen, der selbst Menschenwürde nicht allen Menschen gleichermaßen zuerkannt hat? Für Boehm liefert Kant selbst die Antwort. Philosophische Ideen sind auch dann gültig, wenn diejenigen ihnen nicht gerecht werden, die sie in die Welt getragen haben.
Genau darüber hätte Boehm bei der Gedenkfeier gesprochen. Er wollte für die Idee eines universalen Friedens werben als Ursprung aller menschlichen Beziehungen, menschlicher Politik und menschlichen Rechts. Boehm wollte aus Kants „Zum ewigen Frieden“ zitieren. Er hätte gesagt: „Kant wusste selbstverständlich genauso gut wie vor ihm die Propheten, dass die Realität unserer Welt brutal ist. Aber genau das war der Punkt. Es ging ihm darum, dass wir uns inmitten der brutalen oder, wie er schrieb, „barbarischen“ Realität Gesetzen unterwerfen müssen, deren Ideal der Frieden ist, weil nur so sichergestellt ist, dass er trotz allem möglich bleibt.“
„Nie wieder“ nur in universeller Form gültig
Und dann hätte Boehm das getan, wovor die israelische Regierung so viel Angst gehabt hatte, dass sie ihn aus tausenden Kilometern Entfernung erfolgreich von der Bühne ferngehalten hatte. Er hätte ihr ins Gesicht gesagt, wie viel Verantwortung sie selbst trägt für das massenhafte Sterben im Nahen Osten. Er hätte gesagt, dass die Formulierung „Nie wieder“ nach dem größten Verbrechen des Holocaust nicht allein für Jüdinnen und Juden gelten könne. Sie müsse auch für Palästinenserinnen und Palästinenser gültig sein. Denn wenn jede Seite in dieser Debatte ihre Politik mit der Bekräftigung ihrer eigenen Identität beginne – der jüdischen oder der palästinensischen –, dann gelange sie jeweils zur Auslöschung der anderen. „Nie wieder“, so hätte Boehm gesagt, sei nur in seiner universellen Form gültig, und nur dann könne es seiner besonderen Formulierung gerecht werden. „Zumal eine Welt, in der nur den Juden der Ausrottungskrieg, den sie erfahren mussten, künftig erspart bleiben soll, eine Welt ist, in der auch ihnen weitere Ausrottungskriege nicht erspart bleiben werden.“
Es ist keine Überraschung, dass die israelische Regierung unter allen Umständen verhindern wollte, dass so etwas in der Öffentlichkeit gesagt wird. Und gerade deshalb ist es so wichtig, dass das jetzt alle Menschen hören, die sich für Frieden und das Ende des Mordens stark machen wollen.
Danke für den Hinweis auf Omri Boehms Rede. Leider ist sie nur gegen Abo zu haben. Gibt es eine andere Quelle, z.B. ein PDF?