Wenn Verantwortung überfordert – was dann?
Ein persönlicher Blick auf Erinnerung, Schuld, Gerechtigkeit – und das Gefühl, ständig zu scheitern
Im November 1949 hielt der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Hedler im Gasthof „Deutsches Haus“ in Neumünster einen Vortrag. Wenige Monate vorher war er mit der DP, der Deutschen Partei, Teil der Regierungskoalition unter Kanzler Konrad Adenauer geworden – ein Mann, der 1932 der NSDAP beigetreten und während des Zweiten Weltkriegs Offizier der Wehrmacht gewesen war. Jetzt sagte er, man könne geteilter Meinung sein, ob die Vergasung von Juden das richtige Mittel gewesen sei. Es hätte auch andere Möglichkeiten gegeben, sich ihrer zu entledigen. Die Reaktion des Publikums: Gelächter.
(„Wenn Verantwortung überfordert – was dann?“ gelesen von mir)
Die Szene ist dokumentiert in Ruth Hoffmanns Buch „Das deutsche Alibi“. Sie steht sinnbildlich für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, in der Nazis bald nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland als Staatsanwälte, Politiker oder Beamte in verantwortliche Positionen zurückkehrten. Das belegen auch Studien. In der westdeutschen Justiz waren zwischen 70 und 80 Prozent der Richter und Staatsanwälte bereits im NS-Staat tätig. Mehr als 60 Prozent der hohen Beamten im Auswärtigen Amt waren NSDAP-Mitglieder. In Bayern verrichteten Anfang der 1950er-Jahre 60 Prozent der leitenden Polizisten ihren Dienst, die schon der NSDAP angehört hatten.
Es sind solche Zahlen, die etwas zum Vorschein bringen, was schwer zu fassen und noch schwerer zu akzeptieren ist. Nämlich, wie unzureichend unsere Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute ist und und welche Folgen es hat, wenn das kollektive Erinnern an der Oberfläche bleibt. Wir haben gelernt, mit unserer Vergangenheit umzugehen – vor allem dort, wo das Gedenken ritualisiert und sicher ist. In Feierstunden, auf Veranstaltungen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, in Schulbüchern. Doch was passiert, wenn die Geschichte plötzlich wieder nah rückt, wenn sie nicht nur im Museum stattfindet, sondern in der Gegenwart, auf der Straße, im eigenen Denken, erleben wir gerade auf schmerzhafteste Weise. Bis heute wirken Denkmuster aus der Vergangenheit fort. Die Folge ist eine Überforderung, die sich nicht beheben lässt, indem man auf komplexe Entwicklungen mit einfachen Antworten reagiert.
Ich mittendrin und voller Widersprüche
Ich erlebe das bei mir selbst. Seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag des grausamen Angriffs der Hamas auf Israel, ist in mir vieles ins Wanken geraten. Ich sehe, wie jüdische Menschen in Deutschland wieder Angst haben, sich mit Kippa auf die Straße zu trauen. Ich erlebe gleichzeitig, wie Menschen mit palästinensischen Wurzeln verzweifeln, weil sie sich nicht gehört fühlen und sich bei ihnen der Eindruck verfestigt: Unser Leid und unsere Rechte zählen weniger.
Ich mittendrin – und voller Widersprüche. Ich tat mich schwer, die Verbrechen öffentlich zu benennen, die Israel in Gaza verübt. Es sei denn, eine jüdische Stimme hatte es vorgemacht. Ich glaubte, nur so könne ich moralisch sicher stehen. Unter anderem „Das deutsche Alibi“ hat für mich etwas an die Oberfläche meiner Wahrnehmung geholt, was seit Jahrzehnten durch meine Seele weht, ohne dass ich dafür Worte gefunden hätte. Ich bin Teil einer Gemeinschaft, aus der eine Aggression nie ganz verschwunden ist, die zum größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit geführt hat. Jede Anekdote von einem Nazi, der im Nachkriegsdeutschland Fuß fassen konnte, erinnert mich daran. Jedes Schwarz-Weiß-Foto einer Hakenkreuzfahne. Jeder Ton des Holocaust-Planers Adolf Eichmann. Ich befürchtete, dass ich mit einem falschen Gedanken, einem Moment mangelnder Solidarität mit dem Schicksal von Jüdinnen und Juden in einen Sog geraten könnte, der mich zu einem Deutschen macht, der nichts verstanden hat.
Doch so ein Verhalten erzeugt eine neue eigene Asymmetrie. Menschen mit palästinensischen Wurzeln fühlen sich unsichtbar, abgewertet, an den Rand gedrängt. Sie schreien ihre Verzweiflung heraus – und werden überhört, von der Polizei verprügelt oder kriminalisiert. Meine eigene Überforderung hat mich blind gemacht gegenüber der Tatsache, dass ich meinen Teil dazu beigetragen habe, den sozialen Frieden zu zerstören, dessen Erhalt oder besser: dessen tatsächliche Entstehung mich mein Leben lang auf Trab gehalten hat.
Moment mal, welche Privilegien?
Ich bin ein weißer Mann von 50 Jahren. Ich komme aus einer Welt, in der man sich anstrengen musste, um dazuzugehören. Und oft dennoch das Gefühl hatte, dem Leben der Anderen nur durchs Schaufenster zugucken zu können. Ich habe Jugendgruppen für benachteiligte Familien geleitet, allen Ehrgeiz investiert, um durch Bildung aufzusteigen, und mich zivilgesellschaftlich engagiert. Auch, um mir selbst zu beweisen: Ich gehöre doch dazu. Und dann kam irgendwann der Moment, als man mir sagte: Du bist ein weißer Mann – befasse dich mit deinen Privilegien. Und ich dachte: Moment mal, welche Privilegien? Bis ich begriff, nach anfänglicher Weigerung, dann Schritt für Schritt und unter großen Schmerzen: Man kann unter dem System leiden und es trotzdem mittragen. Man kann benachteiligt sein und zugleich von Privilegien profitieren. Wer das nicht anerkennt, bleibt stecken in Erzählungen, die vor allem dazu dienen, den eigenen Status quo abzusichern – oder die bequeme Erkenntnis, doch selbst nur Opfer zu sein.
Nicht nur ich bin ins Wanken geraten. Unsere ganze Gesellschaft wackelt und viele von uns haben – auf sehr unterschiedliche Weise – dazu beigetragen. Weil wir Angst haben. Weil wir überfordert sind. Weil wir uns selbst nicht genug verstehen. Und weil wir verlernt haben, uns gegenseitig wirklich zuzuhören.
Man kann nichts richtig machen, nur mehr oder weniger falsch
Die Überforderung sitzt tief und reicht weit. Die einen ziehen sich zurück, aus Angst, das Falsche zu sagen. Es heißt oft: Alle, die schweigen, machen sich zu Komplizen der Verbrechen. Mein Eindruck ist: Das Schweigen ist kein absichtsvoller Akt. Es erscheint vielmehr oft als die einzig mögliche Reaktion, die noch bleibt, wenn man miterlebt, wie es denen ergeht, die versuchen, sich durch das Dickicht zu schlagen und die richtigen Worte zu finden in einer Situation, in der man eigentlich nichts richtig machen kann, sondern nur mehr oder weniger falsch.
Andere äußern sich mit wachsender Radikalität. Sie finden in ihrem oft so berechtigten Zorn Antworten, in denen sie die Wirklichkeit so weit reduzieren, dass daraus Botschaften werden, die sich schnell verstehen und teilen lassen, unterstützt von Social Media-Algorithmen, die ihnen das Gefühl geben, im Recht zu sein.
Gruppentherapie, zweimal die Woche, verpflichtend für alle
Eigentlich müsste dieses Land den Betrieb jetzt für ein paar Jahre schließen. Gruppentherapie, zweimal die Woche, verpflichtend für alle. Damit wir uns aussprechen, uns in unseren unterschiedlichen Schmerzen begegnen und gemeinsam nach Lösungen suchen können. Das ist, sagen wir, etwas unrealistisch. Also muss es anders gehen. Wir müssen innehalten, dem eigenen Schmerz ins Auge blicken, dafür Worte finden und einander die Möglichkeit eröffnen, uns darin zu begegnen, ohne dafür verurteilt zu werden. Wir müssen anfangen, ehrlicher miteinander zu sprechen. Uns eingestehen, wo wir scheitern, und uns erlauben, jeden Tag ein bisschen besser zu scheitern. Verantwortung ist kein Zustand. Sie ist ein Weg. Und manchmal besteht sie nur darin, im richtigen Moment zu sagen: Ich weiß es gerade nicht. Aber ich bleibe da. Ich höre zu und versuche, aus meiner Überforderung neue Fragen zu formulieren. Fragen, auf die wir gemeinsam nach Antworten suchen können.
Solange wir nicht bereit sind, unsere toten Winkel zu sehen – in der Geschichte, in unserer Gesellschaft, in unserer eigenen Geschichte – werden wir nur immer weiter überrascht sein davon, wie schnell sich die Vergangenheit in die Gegenwart schleicht, wie dramatisch die Folgen mitunter sind und wie leicht sich neue Ungerechtigkeiten hinter alten Mustern verstecken. Dann haben am Ende Menschen wie Wolfgang Hedler doch gewonnen, der auch nach dem Ende des Nationalsozialismus so überzeugt davon war, genau zu wissen, wie die Deutschen zur ewigen Herrenrasse werden.
Es gibt noch viele Tabus. Zum Beispiel der Anteil der Frauen am NS-Staat. Das wird ungern direkt thematisiert. Denn Frauen werden in vieler Hinsicht mehr in Schutz genommen. Das hat evolutionsbiologische Gründe und wird sich darum nicht ändern.