Das Schweigen zu Israel und Palästina muss aufhören
Es gibt nur einen Weg, sich der eigenen Sprachlosigkeit zu stellen. Er führt über den eigenen Schmerz
(„Das Schweigen zu Israel und Palästina muss aufhören“, gelesen von mir)
Der 7. Oktober 2023 liegt eineinhalb Jahre zurück. Die Hamas hat 1200 Menschen ermordet und über 250 als Geiseln genommen. Niemand weiß, wie viele von ihnen überhaupt noch am Leben sind. Anschließend ist ein Krieg über Gaza hereingebrochen, der knapp 50 000 Menschen das Leben gekostet hat. Im Ministerium des rechtsextremen Bezalel Smotrich gibt es jetzt eine eigene Abteilung, die die vollständige Entsiedlung des Gaza-Streifens vorbereiten soll. Im Westjordanland werden Häuser zerstört und Menschen vertrieben und verprügelt.
Die Folgen dieses Grauens verbreiten ihr Gift längst auch in der deutschen Gesellschaft. Menschen mit palästinensischen Wurzeln leben mit dem sich immer tiefer einnistenden Gefühl: Unser Leben ist weniger wert. Wer Kritik übt am Vorgehen Israels oder darüber sprechen möchte, dass Israel seit Jahrzehnten Palästinenserinnen und Palästinenser systematisch unterdrückt, wird zum Schweigen gebracht. Und Menschen mit israelischem Hintergrund beklagen, dass ihre Ängste kleingeredet werden, wenn sie zum Beispiel von Hamas-Dreiecken auf Hauswänden erzählen oder jüdische Einrichtungen und Cafés angegriffen werden. Sie haben den Eindruck, dass ihnen, etwa mit dem Verweis auf jüdische Lobby-Organisationen, die sich auf jeden Versuch, Israel zu kritisieren, mit dem Vorwurf des Antisemitismus werfen, echte Solidarität verweigert wird.
Sich im Interesse eines sozialen Friedens, der auch hier immer weiter in Gefahr gerät, eine eigene Meinung zu bilden, die versucht, allen und allem gerecht zu werden, ist mitunter, als würde man an einer achtspurigen Autobahn sitzen und zu meditieren versuchen. Und doch ist genau das die Aufgabe: Der 7. Oktober bringt ans Licht, wie weit der Weg ist, den die deutsche Gesellschaft noch zurücklegen muss.
Das lärmende Schweigen
Sie muss sich einerseits dem Dämon des Antisemitismus stellen, der seit der Naziherrschaft offensichtlich nie ganz verschwunden ist und weiter jeden Tag Schaden anrichtet. Er bedroht nicht nur Menschen. Der krampfhafte Versuch, ihn einzudämmen, führt dazu, dass Demonstrationen verboten oder nur unter strengen Auflagen genehmigt werden. Veranstaltungen in Unihörsälen oder an anderen öffentlichen Orten werden abgesagt. Der Vorwurf des Antisemitismus ist so schnell zur Hand, dass bei Diskussionsveranstaltungen einzelne Sätze moniert werden. Unter allen Umständen will Deutschland beweisen, die Lehren gezogen zu haben aus dem düstersten Kapitel seiner Geschichte – und lenkt damit oft nur davon ab, dass es sich mitunter verhält wie jemand, der Spanisch lernen möchte und sich allein auf das Pauken von Vokabeln konzentriert. Solang man nicht wirklich in die neue Sprache eintaucht, ihre inneren Zusammenhänge begreift und zu sprechen beginnt, ist das kein Lernen, sondern Büffeln. Und sie muss sich andererseits damit konfrontieren, wie nach wie vor ein Rassismus wie eine schwere Wolke über ihr hängt, die nicht abregnet.
Vor lauter Angst, in einer solchen Überforderung Stellung zu beziehen für eine wirklich freie und offene Gesellschaft, hat sich ein lärmendes Schweigen breitgemacht. Doch genau diese Stille ist es, die die eigene Seele genauso aushöhlt wie die Demokratie. Es gibt nur einen Weg, um denk-, fühl- und sprechfähig zu werden und zu bleiben. Er führt über die Bereitschaft, sich selbst auf den Grund zu gehen. Vor dem eigenen Schmerz nicht davon zu laufen. Die eigene Verwirrung nicht zu verdrängen. Das Gefühl der Überforderung nicht zu ignorieren. Und damit Worte zu finden für das, was an Gedanken und Gefühlen durch das eigene Bewusstsein weht und nicht davon verschwindet, dass man davor Augen und Ohren verschließt.
Die Schuld in mir
Wenn ich mich auf diesen Weg mache, kommen sehr schmerzhafte Wahrheiten zum Vorschein. Ich spüre den Schmerz, zu einem Volk zu gehören, das so viel Hass und Gehorsam hervorgebracht hat, dass sich damit sechs Millionen Menschen ermorden lassen. Ich fahre mit dem Rad durchs Brandenburger Tor und sehe die Hakenkreuz-Fahnen vor mir. Ich höre die Rufe von Menschen, die bereit sind, in ihrer Sehnsucht nach dem privaten kleinen Glück jenen zu folgen, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen und sie in Wirklichkeit in die Hölle führen. Und dann sehe ich, wie mächtig diese Kräfte heute wieder geworden sind durch Menschen in der Politik, in der Gesellschaft, in den Medien, die so tun, als müsste man für komplexe Probleme nur einzelne Schuldige benennen, die man aus dem Verkehr ziehen kann. Und sofort sind alle Schwierigkeiten gelöst und die deutsche Gesellschaft kann zurückkehren zum Wohlstand der vergangenen Jahrzehnte, von dem viele nicht hören wollen, dass er nicht nur auf Fleiß, Erfindungsreichtum und klugem politischem Handeln gründet, sondern genauso auf Ausbeutung, Privilegien und der Bereitschaft, sich blind und taub zu stellen vor den zerstörerischen Folgen. Und tief in mir erkenne ich außerdem, dass der Antisemitismus auch in mir seine Schatten aus der Vergangenheit wirft. Ich will mir selbst beweisen, dass ich nicht so bin: nicht so ignorant, nicht so blind, nicht so dumm. Deutschland hat aus dem „ältesten Vorurteil der Welt“ (Jean-Paul Sartre) eine Mordmaschine gemacht und Menschen dazu gezwungen, einen eigenen Staat zu gründen, um vor dem Hass sicher zu sein, für den Deutschland steht wie kein anderes Land. Diese Schuld ist auch in mir und ich fühle mich verpflichtet, an einer Sprache der Verbindung und des Verständnisses mitzuwirken. Ich kann nicht ausschließen, dass ich im Bemühen, das Richtige zu denken und zu sagen, das Fremde in mir gerade damit stärke.
Dieser Weg führt mich genauso zur schmerzhaften Erkenntnis, dass der Rassismus auch in mir steckt. All die Warnungen von Menschen, die jeden Tag spüren, was es bedeutet, von dieser Gesellschaft nicht angenommen und nicht respektiert zu werden, weil sie keine weiße Hautfarbe haben und nicht Müller oder Meyer heißen, haben nicht dazu geführt, dass er aus mir verschwunden wäre. Ich ein Rassist? Ich bin doch aufgeklärt und verständnisvoll. Und habe viel zu lange übersehen, dass ich es für selbstverständlich genommen habe, schnell eine Wohnung zu finden oder von Netzwerken zu profitieren, die mich von Job zu Job führen. Bei mir beendet niemand das Gespräch oder sagt mir eine Wohnung ab, wenn ich meinen Nachnamen sage. Schächtele – klingt ja so schön deutsch. Rassismus resultiert auch daraus, den eigenen Privilegien nicht auf den Grund zu gehen und nicht zuzuhören.
Worte für das, was so lang unsagbar blieb
Ich schäme mich für das, was ich in mir wahrnehme. Und ich erlebe gleichzeitig die Erleichterung, Worte zu finden für das, was so lange auch in mir unsagbar geblieben ist. Ich will lernen und nicht büffeln und mich mit der neu gewonnenen Sprache einmischen. Dem Antisemitismus überall dort entschieden entgegen zu treten, wo er sich wieder traut, seine hässliche Fratze zu zeigen, halte ich für meine Pflicht. Genauso wahr ist: Wenn die Angst vor Antisemitismus so weit geht, dass jeder Diskussionsraum geschlossen wird, geht schleichend genau das kaputt, was Verbote zu schützen versuchen: eine Gesellschaft, in der niemand Angst zu haben braucht, sich zu versammeln, sich zu zeigen und für die eigenen Interessen und Bedürfnisse einzustehen – so lange Sprechen und Handeln innerhalb von Grenzen verlaufen, die eine Gesellschaft gemeinsam verabredet hat. Auch dafür gilt es jetzt Verantwortung zu übernehmen.
Das Schweigen muss aufhören. Sonst reden vor allem jene, die unsere Demokratie für ihre eigenen Zwecke missbrauchen. Damit sind sie schon viel zu lang durchgekommen.
Danke für das differenzierte, kluge und detaillierte Beschreiben meiner derzeitigen Ambivalenzen.
Du sprichst/ schreibst mir aus dem Herzen und ich lese aus Deinem Text heraus, dass Du ihn sehr wohl überlegt hast.
Es braucht so dringend Räume in denen wir uns zuhören - zu Israel und Palestina, zu Russland, Ukraine und dem Westen, zu Ungerechtigkeit, Rassismus und Ausländerhass, zu den Parallelgesellschaften, die wir inzwischen bilden, zu Klima- und Gerechtigkeitsfrage, zu so vielen Themen, bei denen wir uns auf gesellschaftlicher Ebene und in den diversen Medien nicht mehr zuhören, sondern nur noch die Keule rausholen, um die jeweils anderen zum Schweigen zu bringen.
Hinter all dem liegt Schmerz und Angst, die wir nicht anschauen, nicht wahrhaben wollen.
Wir brauchen diese Räume des Zuhörens auf allen Ebenen.
Mehr Demokratie leistet da eine richtig gute Arbeit. Und: Es kann nicht genug davon geben.