Macht Generalpausen!
Warum es gerade jetzt wichtig ist, regelmäßig die Welt für einen Moment anzuhalten
(Fotos: Stephan Röhl)
(„Macht Generalpausen“, gelesen von mir)
Gründonnerstag im April 2025. In den Vereinigten Staaten regiert ein König, der sich über Gerichtsentscheidungen hinwegsetzt und den Regierungschef von El Salvador als „großen Staatsmann“ empfängt. Nayib Bukele macht bei sich zuhause Menschenrechtsverteidigerinnen oder Journalisten in den Sozialen Medien persönlich verächtlich und führt den Staat wie ein Unternehmen. Wer zahlt, bestimmt. Wer nicht spurt, wird entlassen bzw. ins Gefängnis gesteckt. Und wenn ein Gericht entscheidet, dass er jemanden zu Unrecht weggesperrt hat, twittert er: „Oopise… too late“. Zwinkersmiley.
In Gaza eskaliert ein Krieg jeden Tag ein wenig mehr, von dem Menschen wie der ehemalige Israel-Botschafter in Deutschland Avi Primor sagen, dass der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit den Ermordeten von Gaza Innenpolitik betreibt. Er weiß, dass er sich mit dem Ende des Kriegs nicht mehr gegen Neuwahlen sperren kann, dann abgewählt wird und im Gefängnis landet.
Und in Deutschland ist es inzwischen so trocken, dass Sprinkleranlagen öffentliche Gärten und Parks bewässern müssen – im April, einem Monat, von dem es einmal hieß, April, April, der macht, was er will. Inzwischen macht der April gar nichts mehr außer so zu tun, als wäre er Juni.
Wir sind mit uns allein
Lässt man sich beim Joggen durch den Park den Zustand der Welt durch den Kopf gehen, kommt es einem bald so vor, als würde sich das Universum vom Planeten Erde langsam abwenden und der Menschheit sagen: Ich habe über Jahrmillionen dafür gesorgt, euren Planeten in einem Gleichgewicht zu halten, das euch ermöglicht hat, zu der hochentwickelten Spezies zu werden, die ihr heute seid. Wenn ihr jetzt meint, das alles innerhalb kürzester Zeit durch Gier, Egoismus, Ignoranz und Dummheit zerstören zu müssen, bitte schön. Aber besser ohne mich.
Wir sind mit uns allein, in einem Moment der Geschichte so düster und aussichtslos wie noch nie zuvor, seit wir auf diesem Planeten sind. Woher sollen da Trost, Hoffnung und die Lust kommen, trotzdem jeden Morgen aufzustehen und loszulaufen?
Die heiß laufende Kopfmaschine anhalten
Die Kraft zum Weitermachen kann nur aus uns selbst erwachsen. Niemand wird uns die Aufgabe abnehmen, regelmäßig die heiß laufende Kopfmaschine anzuhalten, damit sie sich abkühlen kann. Und nur wir selbst können Augenblicke erzeugen, in denen die Seele leuchtet. Einen solchen Augenblick habe ich am vergangenen Wochenende erlebt. Und es war darin ein Symbol enthalten, in dem eine grundlegende Wahrheit offenbar wird.
Ich spiele Trompete in einem Berliner Orchester, das sich vor über 20 Jahren gegründet hat, weil eine Handvoll Musikerinnen und Musiker einen Haufen vermisste, wie sie ihn in ihrer Heimat hatte verlassen müssen: eine Gruppe mit musikalischem Anspruch einerseits und der Lust am Verrücktsein andererseits. Und so entstand die Zentralkapelle Berlin, die sich ihre eigene Wirklichkeit erschaffen hat. Das erste „Traditionelle Sommerkonzert“ fand in einem Kellergewölbe statt. Inzwischen hat sie sich einen so großen Fanclub erspielt, dass einmal im Jahr knapp tausend Menschen kommen, um erst zwei Stunden zuzuhören und danach mit uns vier Stunden zu tanzen.
In diesem Jahr haben wir unter anderem ein Stück des portugiesischen Komponisten Luis Cardoso gespielt: ein Konzert für zwei Alt-Saxophone und Blasorchester. Drei Sätze lang haben sich eine Solistin und ein Solist gemeinsam mit Flöten, Posaunen, Klarinetten, Trompeten, Tuben und allen anderen durch das Leben geblasen; mal wild, mal zart; mal pompös, mal poetisch. Und mittendrin ein Moment, der so zauberhaft war, dass er besondere Aufmerksamkeit verdient. Es war ein plötzlicher Moment absoluter Stille (zum Beispiel hier bei 6:54).
Erst Pausen machen Musik komplett
In der Musik heißt so ein Moment Generalpause. Die Musik hält schlagartig inne und alles wird still. Es entsteht ein großer Zauber, der sich entlädt, sobald die Musik wieder einsetzt. Alles, was darauf folgt, wird noch strahlender und noch erhabener. Musik besteht nicht nur aus Tönen. Sondern auch aus Pausen. Die machen die Musik erst komplett. Und so ist es auch mit dem Leben. Gerade jetzt. Wir brauchen die Ruhe und das Durchatmen, um die Synapsen zu beruhigen, damit wir auch dann lachen und tanzen können, wenn sich die Welt dunkel und kalt anfühlt.
Im Alltag Generalpausen einzulegen, bedeutet: einem Despoten die Macht über das eigene Leben zu entziehen, indem man nicht auf jeden Text klickt, der von ihm handelt; die Zerstörung des Klimas anzuerkennen und sich trotzdem zu erlauben, das Gesicht in die Sonne zu drehen und die Wärme zu genießen; die Lehren aus dem Faschismus ernst zu nehmen und in der Gegenwart den Fokus auf jene zu richten, die dem Gift der Rechtsextremen Gemeinsinn, Gerechtigkeit und Menschlichkeit entgegensetzen; und regelmäßig die Augen zu schließen und die Stille zu erleben, die entsteht, wenn die einzige noch wahrnehmbare Bewegung der eigene Atem ist.
Gönnt euch Generalpausen. Gerade dann, wenn das Gefühl zu überwältigend zu werden droht, dass das Leben seinen Sinn verloren hat, und jede Aussicht auf eine bessere Zukunft lächerlich scheint. Die Zeit ist schon traurig genug. Es ist niemandem geholfen, wenn dann auch noch wir in Trauer versinken.
Frohe Ostern!
Lieber Kai, dem Lob der Pause pflichte ich gern bei. Wozu ich gleichsam ermutigen möchte, ist, unsere Zeit nicht als die Düsterste und Aussichtsloseste einzustufen. Sie mag sich für viele Menschen und auch dich so anfühlen. Aber wie der Genuss eines Verstummens ist auch die Sorge vor der Zukunft doch zunächst nur eine Empfindung, die du ähnlich stark spürst, oder? Das Oszillieren zwischen der Wahrnehmung von überwältigender Sinnlosigkeit und dem Aufruf zu gänzlicher Stille scheint mir da eine heftige Achterbahnfahrt. Aber vielleicht lässt sich dein Plädoyer auch so lesen, dabei immer mal wieder anzuhalten und die Sinne in alle Richtungen neu zu justieren, um zu ausgewogeneren Schlüssen zu gelangen. In diesem Sinne: 𝄐 Dein Bernd
Lieber Kai, deine Gedanken zu lesen an einem Karfreitag ist ein guter Einstieg in den Tag. Danke!